1. Mathematisches Chaos für metaphysische Ordnung
Alles Leben ist lebendig, weil es stetiger Veränderung unterworfen ist. Es ist gekennzeichnet durch dauernde Bewegung, die sich auf verschiedenen Ebenen widerspiegelt: Lebewesen bewegen sich zwischen verschiedenen Orten, Lebensformen verändern sich durch Evolution und Lebensabschnitte unterscheiden sich durch unterschiedliche Erfahrungen. Leben ist somit ständiges Werden und kann als eine Reihe von Zustandsänderungen bezeichnet werden.

Auf kausal einfacher Ebene sind Veränderungen gut zu beobachten: Die Anpassung der Natur auf bestimmte Umweltbedingungen ist nur eines von vielen Beispielen der ständigen Veränderung. Im Bereich komplexer Strukturen und Zustände, von denen einige sogar als menschliche Entscheidungsfreiheit verstanden werden, ist das Werden schwieriger einzuschätzen. Dort macht nur die Reflexion auf die Zustände ihre Veränderung deutlich, im konkreten Handeln muß Veränderung nicht immer notwendigerweise beobachtbar sein.

Das Werden ist untrennbar mit konkreten Ausprägungen von Materie verknüpft. Ohne diese gäbe es kein Leben in der uns bekannten Art. Nur basierend auf bestimmten Formen sind auch Veränderungen im Sinne des Werdens möglich. Von Werden kann also nur dann gesprochen werden, wenn es von etwas mehrere Zustände gibt, die sich unterscheiden. Unterschiedliche Zustände folgen im Werden jedoch nicht einfach aufeinander, sondern können sich gegenseitig beeinflussen und eine grundlegende Ursache des Werdens sein. Der Widerspruch zwischen zwei Zuständen scheint bei betroffenen Objekten oder innerhalb komplexer Systeme Bewegung hervorrufen. In der Natur ist bei unterschiedlichen Potenzialen, die aufeinanderteffen, häufig eine Annäherung zwischen diesen die Folge. In solchen Fällen scheint der Widerspruch die Zustände geradezu in eine andere Form zu treiben.

Das Vorhandensein eines Widerspruchs ist aber auch von bestimmten Bedingungen oder Gesetzen abhängig. Wenn ein Zustand seine Form verändert, ist dabei häufig das Entscheidende ein betrachteter anderer Zustand, der als zu vergleichender Bezugspunkt dient. Denn der ursprüngliche Zustand muß sich erst als widersprüchlich zu einem anderen erweisen, bevor es zu Bewegung kommt. Bei einfachen Zuständen kann der Widerspruch aus den physikalischen Gesetzmäßigkeiten abgeleitet werden, so ziehen sich entgegengesetzte Ladungen per Naturgesetz an und gleichen sich aus. Dabei ist der ausgeglichene Zustand derjenige, der als Vergleichspunkt dient. Bei komplexen Zuständen ist die Widersprüchlichkeit schwieriger zu begründen, dennoch muß auch hier ein Bezugspunkt zu etwas vorliegen, an dem die Unterschiedlichkeit von Zuständen deutlich wird. Dieser Bezugspunkt kann auch als eine Art Anziehungspunkt betrachtet werden, der etwas in seine Richtung lenkt. Dabei ist auch nicht relevant, ob es sich bei dem angestrebten Zustand um einen real gegebenen oder um einen rein fiktiven handelt. Wichtig ist nur seine Rolle als Fixpunkt, der andere Zustände an sich orientieren läßt.

Die Art und Weise der Auflösung von Widersprüchen ist ein einheitlich zu beobachtendes Phänomen. Widersprüchliche Zustände werden ineinander überführt und gleichen sich an. Denn ein System voller Spannungen erfährt in seiner Entspannung eine Verbesserung. Diese Methode der Entwicklung betrifft sämtliches Werden. Immer dort, wo Widersprüche gelöst werden, findet auch Weiterentwicklung statt.

Auf materieller Ebene vollzieht sich Entwicklung mittels Einkreisen des besten Zustands. Wie bei einem Pendel wird der gelöste Ruhezustand durch sich stets nähernde Bewegungszustände erreicht. Dieses Verhalten erinnert an Resultate aus der Chaos-Theorie. Dort gehen aus widersprüchlichen oder chaotischen Zuständen auch geordnete Verhältnisse vor. Und diese Ordnung entsteht, indem einem sogenannten Attraktor gefolgt wird, der in der Chaos-Theoerie ein richtungsgebendes Element ist. Die zyklische Annäherung an einen attraktiven Zustand verläuft auch in der Chaos-Theorie konvergent, also sich stets annähernd und findet ihr Ende in der exakten Übereinstimmung mit dem Zielpunkt.

Auf immaterieller Ebene verläuft Entwicklung stets ohne definierbaren Endzustand. So hat das Erreichen von absoulter Freiheit keinen konkreten Endpunkt, sondern im Gegenteil eine exponentiell wachsende Ergebnismenge an Möglichkeiten. Und dies entspricht in der Chaos-Theorie einer divergenten Entwicklung, die einem Attraktor unendlich lang folgt. Denn auch das unendliche Folgen ist eine Entwicklung, da in ihrem Verlauf immer mehr erreicht wird als vorher vorhanden war. Weiterentwicklung kann also sowohl im Konkreten als auch im Abstrakten durch Prinzipien der Chaos-Theorie beschrieben werden: als Attraktoren vorhandene Idealzustände, die einer Entwicklung die Richtung geben.

Aber Entwicklung vollzieht sich offenbar nicht immer geradlinig und eindeutig, und viele Bereiche unserer Welt stellen sich als problematisch dar. Trotz der Fortschritte in Wissenschaft und Technik scheinen immer wieder Konstellationen aufzutauchen, die teilweise an vergangene erinnern, die als bereits gelöst galten. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß die Menschheit mindestens auf materieller Ebene eindeutig eine Entwicklung vollzogen hat: die Globalisierung hat alle Versorgungs- und Informationsbereiche auf ein nie dagewesenes Niveau gebracht, das dem Prinzip nach alle materiellen Belange des Menschen zu lösen vermag.

Auf mentaler Ebene stellt sich die Situation etwas anders dar. Trotz des täglich gewaltig anwachsenden Wissens paßt die Zahl sozialer Konflikte, psychologischer Auffälligkeiten und moralischer Problemfragen nicht zum allgemeinen Entwicklungsstand der Menschheit. Es scheint eher so zu sein, daß hier die Entwicklung eine differenzierte Betrachtung erfordert als im materiellen Bereich, in dem sich vieles einfacher darstellt:

Im allgemeinen wird Entwicklung als auf Etappenzielen basierend begriffen. Schrittweise orientierte Entwicklung findet sich in vielen wichtigen Bereichen wieder. Dabei gilt als Ziel immer das nächste Etappenziel, die Richtung wird im Detail teilweise sogar durch den Gang der Entwicklung selbst beeinflußt. Nicht selten findet dabei das Prinzip des geringsten Widerstands Anwendung. Davon wird häufig der Vorteil abgeleitet, daß gefundene Lösungen praxisnah seien. Doch die Nachteile liegen auf der Hand: Ursprünglich definierte Fernziele geraten aus dem Blick. Lösungen werden nicht mehr anhand der Aufgabenstellung gesucht, sondern werden nur durch das gefunden, was unmittelbar als möglich eingestuft wird.

Das Vermögen der Chaos-Theorie, Entwicklung von einem neuen Standpunkt aus zu betrachten, kann auch die Ursachen für die genannten aktuellen Probleme aufdecken. Gerade auf mentaler Ebene ist zu konstatieren, daß sogenannte Fernziele unklar bleiben. So wird unser Handeln häufig durch subjektive Befindlichkeiten bestimmt. Welche Instanzen existieren in unserer materiell geprägten Welt, die ethische Richtlinien definieren, um dem Fortschritt eine Ausrichtung an Bezugspunkten zu ermöglichen? Unsere Zivilisation präsentiert sich als ein Nebeneinander von Unverbindlichkeiten. Viele Entwicklungen haben einen gefährlichen Grad an Eigendynamik erreicht, die oft ohne jegliche Orientierung begonnen und durch kurzsichtige Handlungen geleitet werden.

Wie sich bereits in der Berücksichtigung von Fernzielen andeutet, kann die Chaos-Theorie nicht nur die Ursachen unserer Probleme liefern, sondern auch die Lösung. Wie gezeigt, kommt als Motivation für Bewegung nicht nur Widerspruch in Betracht. Vielmehr ist Einheit als Grund für Bewegung anzusehen, da Bewegung einen Zustand in einen anderen überführt, mit dem er Harmonie sucht. Das Streben nach Einheit mit einem Idealzustand, welcher in der Chaos-Theorie der erwähnte Attraktor ist, gelingt nur vollends durch Reflexion auf ihn. Wird also Bewegung durch Reflexion begleitet, warum sie überhaupt stattfindet, verläuft sie folglich geradliniger. Und genau das ist die Lösung unserer Probleme, die sich hauptsächlich in mentalen Bereichen darstellen: sich von Attraktoren mehr ziehen als von vordergründigen Motiven treiben zu lassen. Denn damit wird ein höherer Grad an Einheit mit sich selbst und der Welt erreicht, wenn über den Selbstzweck des Werdens hinaus ein metaphysisches Ziel die Motivation der Bewegung ist. Besonders für die mentale Ebene bedeutet dies eine Ausrichtung an kosmologischen Werten, die durch die materiellen Belange häufig in Vergessenheit geraten sind.

Insgesamt läßt sich feststellen, daß die Chaos-Theorie durch den Aspekt der Attraktoren Entwicklung offenbar besser zu beschreiben vermag als immanente Erklärungsansätze. Dies wird dadurch deutlich, wie sich in der Praxis Lösungswege für Probleme vollziehen: Widersprüchliche Spannung wird durch Entspannung aufgelöst, die sich an einem Zielzustand orientiert. Und dieser Zustand fungiert als Attraktor, der die Richtung der Entwicklung vorgibt.

Auf materieller Ebene scheint die Bewegung aus Widerspruch im Vergleich zur Bewegung durch Attraktoren bloß ein anderer Blickwinkel auf Bewegung zu sein. Doch allein eine andere Perspektive auf das Werden kann schon unser Verhältnis zur Welt verändern. Wenn sich Dinge nun dadurch ändern, daß sie statt durch etwas gestoßen von etwas geleitet werden, ist damit ihre Entwicklung zielgerichtet und eindeutig. Der Blick auf Attraktoren kann also zu ein neuem Verständnis vom Werden führen.

Doch es geht um noch mehr als um die Frage einer Perspektive. Die Existenz und Wirkung von Attraktoren wird auf mentaler Ebene faßbar: hier wären die genannten gravierenden Probleme nicht vorhanden, wenn Entwicklung immer aus sich selbst heraus stattfinden und dementsprechend gelingen würde. Dann würden Probleme mit der Zeit wegoptimiert, was aber offenbar nicht geschieht. Im Gegenteil ist zu beobachten, daß die Anzahl der mentalen Konflikte mit der Abnahme materieller Probleme nicht korreliert, sondern völlig unabhängig davon ist. Dies kann nur dadurch erklärt werden, daß sich die mentale Entwicklung nicht in Richtung eines Attraktors bewegt, sondern ein eigentliches Ziel aus dem Blick verloren hat. Und dadurch bekommt die Entwicklung eine Eigendynamik, welche folglich Probleme verursacht.

Wenn als Sinn des Lebens das Leben selbst verstanden wird, ist damit noch nichts über die Lebensweise gesagt. Und mit den Attraktoren der Chaos-Theorie besteht die Möglichkeit, Aussagen über Werte zu machen, die die Lebensweise neu prägen. Damit würde wieder eine idealistische Brücke zur Metaphysik geschlagen, die während der Neuzeit und der materiellen Perfektionierung vernichtet wurde.

(Mesbahi/Obermayer, 2008)