2. Falsche Attraktoren und harmonische Neuorientierung
Die aktuellen Probleme der Menschheit können in materielle und immaterielle unterschieden werden. Materielle Probleme betreffen sämtliche wirtschaftlichen Belange, die die Versorgung mit Gütern für eine Nation sicherstellen sollen. Vom Phänomen her betrachtet erweisen sich materielle Aufgabenstellungen aber als weniger komplex als immaterielle. Sie sind mit genügend Technologie und entsprechender Zeit stets zu lösen. Und auch oft auf Kosten anderer Menschen, die dabei ausgebeutet werden. Diesen Verlauf hat die Kulturgeschichte unseres Planeten schon häufig gesehen, so daß die Grenze zwischen rein technologischen Lösungen und als sozial ungerecht eingestuften Lösungen in unserer Wahrnehmung fast fließend geworden sind. Doch genauso schwierig wie die exakte Erstellung einer Ökobilanz für eine neue Technologie ist die Einstufung der moralischen Integrität moderner Wirtschaftssysteme. Lösungen für wirtschaftliche Probleme sind nicht automatisch nur auf rein technologischen Fortschritt zurückzuführen. Vielmehr muß auch betrachtet werden, wie moralisch verträglich Lösungen sind oder nicht vielleicht doch auf bloßer Umverteilung und Ausbeutung beruhen, die auf den ersten Blick nicht schwerwiegend auffällt.

Dieser Zusammenhang macht deutlich, daß angesichts scheinbar gelöster materieller Probleme immaterielle Probleme existieren, die den Status gelöster materieller Probleme allein auf moralischer Ebene in Frage stellen. Die reichsten Industrienationen produzieren Wohlstand und Überfluß, die nie gekannte Ausmaße angenommen haben. Daß dieser Wohlstand jedoch oft auf ausgelagerter, billiger Schwellenlandproduktion und unverhältnismäßigen Umverteilungen im eigenen Volk basiert, interessiert Wirtschaftsbilanzen nur wenig. Und daß Menschen trotz dieses Wohlstands eine neue Dimension der Orientierungslosigkeit hinsichtlich ihres Selbstverständnisses und ihrer Position in der Welt beklagen, deutet auf immaterielle Probleme hin, die tief unter der Oberfläche des materiellen Glanzes wurzeln. Der Berufszweig der therapeutischen Psychologen erlebt in den letzen Jahrzehnten einen Aufschwung sondergleichen. Trotz aller gelöster materieller Probleme fühlen sich immer mehr Menschen unglücklich, ohne zu wissen warum. Und trotz aller Rekord-Renditen, mit denen Weltunternehmen um die Wette eifern, wird der Ruf nach moralischen Kontrollinstanzen immer lauter, da sich die immateriellen Probleme in Form einer erneuten weltweiten Finanzkrise zu Wort gemeldet haben. Die Erwirtschaftung von Gewinnen aufgrund von ungerechter Umverteilung geht solange gut, bis das betreffende Bezugssystem ausgeschöpft ist. Weltweit agierende Unternehmen haben unseren gesamten Planeten als Bezugssystem in Beschlag genommen, dessen Endlichkeit sie nun aber schmerzvoll zur Kenntnis nehmen mußten. Gibt also das System keine weitere Umverteilung im Sinne von Ausbeutung mehr her, fällt seine fehlende moralische Integrität auf. Die Gier trifft auf den Endpunkt ihrer Möglichkeiten und wird als immaterielles Problem entlarvt, das lange Zeit als moderne Form von Freiheit verkauft wurde. Und mit der Gier wird deutlich, wo sich das Zentrum aller immateriellen Probleme befindet: im menschlichen Ego.

Das Ich und seine an Willkür grenzende, persönliche Freiheit sind zum goldenen Kalb geworden, das falschen Werten den Nährboden für gravierende Fehlentwicklungen und Problemen bietet. Die Orientierung bloß an sich selbst ist nicht nur die kürzeste Sicht, die ein Mensch besitzen kann, sondern grenzt den Mensch automatisch von der Gemeinschaft ab. Sein Handeln muß damit unsozial werden, seine Denkweise egozentrisch und verzerrt. Manager, die schon als Kind unter den Predigten des persönlichen Wohlstands aufgewachsen sind, handeln an der Spitze von Konzernen nicht anders, sofern ihnen nicht Verantwortungsbereitschaft und Sozialkompetenz gelehrt wurden. Aber daß sogenannte unternehmerische Freiheit auf Kosten von Ausbeutung anderer nicht haltbar ist, prangert auch niemand mehr an, da es den westlichen Nationen an Instanzen fehlt, die das tun könnten. Wenn selbst die christlichen Kirchen angesichts defizitärer Haushaltskassen versuchen, über Änderungen ihrer tradierten Inhalte Menschen und somit Finanzierer für sich zu gewinnen, gehört ihre moralische Kompetenz der Vergangenheit an. Einen Unternehmer an seine moralischen Pflichten zu erinnern, ist damit genauso ein dringendes immaterielles Problem wie die Aufklärung unserer Kinder, daß es neben materiellem Wettbewerb noch andere Aspekte beim Umgang mit anderen Kindern gibt. Es existiert kein verläßlicher Einfluß mehr, der die grundlegenden Ideale unserer Zivilisation vermittelt. Gleichheit, Gerechtigkeit und Gemeinschaft verkommen zu bloßen Worthülsen, von denen privatisierte, profit- und leistungsorientierte Institutionen nichts mehr wissen wollen.

Die verschwindenden Grundideale gehen auf vernachlässigte Aspekte des menschlichen Selbstverständnisses zurück, die selbst in vielen Elternhäusern nicht mehr anzutreffen sind. Daher geht die Lösung der beschriebenen immateriellen Probleme mit einer Änderung der gesamten Gesellschaft einher. Ganz gleich, ob der Gesellschaft neue Impulse und Rückbesinnung auf verlorene Werte von außen vorgegeben oder von innen heraus zugeführt werden. Eine Neuorientierung der Gesellschaft wird tiefgreifende Änderungen mit sich bringen, da sie in ihrer gegenwärtigen Form Pseudowerte pflegt, die sie loslassen muß. Sollen unsere Kinder nicht nur pragmatisch für das Leben ausgebildet werden, sondern mehr in Hinsicht darauf, sich als Mensch selbst zu verstehen, führt das mit einem Schlag zu einer gravierenden Reform unseres leistungsorientierten Bildungssystems. Und hinter diesem System verbergen sich wiederum andere Menschen, Lehrer, die selbst erst eine Ausbildung erfahren müssen, die nicht nur reinen Pragmatismus zum Inhalt hat, sondern sich fundamental mit philosophischen Fragestellungen auseinandersetzen muß.

Auch eine Neuorientierung basiert wie jede andere Orientierung auf Attraktoren, die gemäß der Chaos-Theorie in chaotischen Verhältnissen eine ordnungsstiftende Richtung darstellen. Es ist eine weit verbreitete Annahme, daß das Universum eine Ordnung sei, die dem Chaos des Urknalls folgte. Die Naturgesetze werden als sicheres Indiz dafür gewertet, daß unsere Welt durch und durch geordnet sei. Doch werden Freiheitsgrad und Komplexität unserer Welt betrachtet, mit denen Entwicklungen voranschreiten, offenbart sie sich in Wirklichkeit als Chaos, das einer ursprünglichen Ordnung im Zustand der Singularität folgte. Während Homogenität die Singularität kennzeichnet, in der alles eins und mit sich selbst identisch ist, charakterisiert Heterogenität den Zustand unseres Universums, da alles unterschiedlich verteilt und nichts identisch ist. Und in diesem Chaos scheinen Attraktoren zu existieren, die allem Werden eine Richtung geben, da konkrete Tendenzen beobachtbar sind, die unsere Welt und unsere Gesellschaft steuern: Die wichtigsten Attraktoren, denen viele Menschen gerade in den westlichen Zivilisationen fälschlicherweise folgen, betreffen die Bereiche Wirtschaft, Bildung, Politik und Religion. Für den Bereich der Wirtschaft stellt das Geld den problematischen Attraktor dar, der die generelle egoistische Grundeinstellung unterstützt. Im Bereich der Bildung ist es der Verstand, der als emotionsloses Instrument des reinen Kalküls seine Mitmenschen zu bloßen Faktoren macht. In der Politik beherrscht Macht das Handeln der Menschen, die sich in gewaltigem Ausmaß verselbständigt hat und das heutige Parteiensystem zum reinen Spiel sinnloser Kräfte mutieren ließ. Und schließlich sind Dogmen innerhalb der Religionen ein falscher Attraktor, der die Menschen in Richtung von Fanatismus und Intoleranz zieht.

Alle falschen Attraktoren fördern ein Gesellschaftsmodell der Abgrenzung der Menschen voneinander. Streben Menschen beispielsweise nach Macht, bilden sich daraus stets Schichten von Menschen mit unterschiedlichen Mengen an Macht. Die Folge ist eine Machthierarchie, die wiederum die Basis für soziale Ungerechtigkeit darstellt. Ebenso folgt einer stark unterschiedlichen Verteilung des Geldes eine Hierarchie der Möglichkeiten des Einzelnen. Zudem bilden sich abgeschottete Kommunikationskanäle – in hierarchischen Gesellschaftsformen kommunizieren nicht mehr alle Menschen miteinander, sondern nur noch innerhalb der Schichten und auch häufig nur noch indirekt durch Stellvertreter. Dezentrale und nicht-hierarchische Gemeinschaftsmodelle wie das Internet beweisen, daß in ihnen Austausch und Kommunikation viel effizienter stattfinden. So erst sind große Errungenschaften wie stets aktuelle Enzyklopädien oder globale Handelsportale möglich geworden.

Ein Gesellschaftsmodell, das auch für die wichtigen immateriellen Aufgabenstellungen wie Selbstverständnis und Selbstfindung in der Welt eine Lösung liefern soll, muß sich an anderen Attraktoren orientieren als an denen der westlichen Industrienationen. Denn um die Bildung von Schichten und damit von Hierarchien zu verhindern, wird eine dezentrale Gesellschaft benötigt, die nicht durch zentrale Stellungen von wenigen Personenkreisen beherrscht wird. Vielmehr müßten sich alle Menschen gemeinsam einem außerhalb liegenden Ziel, einem geeigneten Attraktor zuwenden: der Harmonie. Das Zusammenspiel von Elementen ist wichtigstes Ziel in allen Bereichen, auf die wir Einfluß haben. Politische Aufgaben sind nur wirklich in Gemeinschaft zu lösen, was die Demokratie belegt. Die Kräfte möglichst in Einklang zu bringen, ist auch in der Wirtschaft stets der beste Weg, stabile Szenarien zu erzeugen. Sobald einzelne Elemente in solchen Systemen nicht mehr an diesem Harmoniekonzept partizipieren, droht der Kollaps – so wie Diktatoren an ihrer ausufernden Macht scheitern und Finanzmärkte an unendlicher Bereicherung Einzelner zusammenbrechen. Interessanterweise schwingt Harmonie als Hauptattraktor in der menschlichen Zivilisation schon immer mit – als größter Beweis für die Existenz dieses Attraktors. Er färbt zahlreiche Bereiche, die ohne ihn eine deutlich schlechtere Welt zur Folge hätten. Auch das christliche Prinzip der Nächstenliebe ist ein Harmonieprinzip, was jedoch während der Geschichte des Christentums immer wieder durch Egoismus und Machtstreben der Institution Kirche aufgeweicht wurde. Ebenso praktiziert heutige Demokratie Harmonie nur in rudimentärer Form – Politik ist nur Sache bestimmter Personenkreise, die zudem auch noch häufig anstößig statt harmonisch handeln.

Eine Neuorientierung der Gesellschaft braucht also als Hauptattraktor Harmonie, die sie im Gegensatz zur bisherigen Gesellschaftsmodellen radikal in der Vordergrund stellen würde. Harmonie wäre in ihr keine unreflektierte Selbstverständlichkeit, die logisch betrachtet natürlich immer auch einen Weg der Konfliktlösung darstellt. Harmonie als Ziel der Neuorientierung bedeutet, das Gegenüber und damit die Gemeinschaft mindestens so sehr wie sich selbst im Blick zu behalten. Sich bewußt zwecks Harmonie zur Welt zu reduzieren, wird eine dezentrale Gemeinschaft hervorrufen, in der sich die Menschen ähnlicher werden. In der Praxis bedeutet dies nicht Verzicht auf Individualität und Spezialisierung bei der Verrichtung von Aufgaben. Es geht vielmehr um ein neues Bewußtsein, mit dem Menschen an einer Gemeinschaft teilhaben: Sie leisten etwas für die Gemeinschaft und ihren gemeinsamen Fortschritt – und nicht Alles nur für sich selbst.

Harmonie als Hauptattraktor der Gesellschaft wird auch sämtliche spirituellen Bereiche fördern. Denn sobald sich der Mensch auch um Harmonie zur Natur bemüht, wird er seine Beziehung zum Universum entdecken und vertiefen, woraus er sein Selbstverständnis und seine Stellung in der Welt neu definieren kann. Die immateriellen Probleme der Gesellschaft können dann gelöst werden, da der Mensch mit Harmonie seinen tiefsten Grund und sein größtes Ziel gefunden hat - und er mental neu ausgerichtet wird. Damit werden die bestehenden Probleme an den Wurzeln gepackt, was mit den genannten falschen Attraktoren nicht möglich ist. Angewendet auf die wichtigsten gesellschaftlichen Bereiche wird Harmonie in der Politik Macht durch Lösungsorientierung ersetzen, in der Wirtschaft Geld durch Grundversorgung, in der Bildung Leistungskalkül durch Erkenntnis und in der Religion Dogmen durch Überzeugung. Und die Art und Weise der Transformation der bestehenden Gesellschaft hängt bei der Neuorientierung vom derzeit vorhandenen Potenzial der Gesellschaft ab, für den Wechsel bereit zu sein.

(Mesbahi/Obermayer, 2008)