3. Harmonie als Grundsatz der Gesellschaft
Um zu verstehen, warum Harmonie der richtige Grundsatz für eine Gesellschaft ist, ist ein Blick auf ihre Definition erforderlich. Harmonie beschreibt zunächst den Zustand eines Systems, das aus jedem beliebigen Themenbereich stammen kann. Harmonie kann sowohl in physikalischen, biologischen, mathematischen als auch künstlerischen oder soziologischen Systemen existieren. Sie ist in ihrer Urbedeutung ein "Einklang", also das Ergebnis des Zusammenspiels von Elementen, so daß diese folglich als Einheit erscheinen. Sie erscheinen also derartig vereint, daß sogar ihre elementare Getrenntheit voneinander primär nicht mehr wahrgenommen wird. Im Einklang von Harmonie verschmelzen also Komponenten zu einer Gesamtheit miteinander. Und wie es die einzelnen Proportionen schaffen zu harmonieren, bedarf einer näheren Betrachtung.

Bemerkenswert ist, daß im "Einklang" ein starker musikalischer Aspekt vorhanden ist. Harmonien beschreiben in der Musik das als wohlklingend empfundene Zusammenspiel von Tönen, die zusammen eigenständige Einheiten mit unterschiedlichen Bedeutungen ergeben. So können in der Musik Stimmungen über Harmonien vermittelt werden. Auch die Wahrnehmung von Harmonien ist bemerkenswert, da sie mehr irrational als rational verläuft. Das Wohlklingen eines bestimmten Akkords wird eher intuitiv als reflektierend wahrgenommen. Und selbst wenn die einzelnen Komponenten in ihrer exakten Relation zueinander analysiert wurden, ist es stets Schönheit, die primär wahrgenommen wird. Damit schlägt Harmonie die Brücke zur Kunst, in der das spontane Natürliche genauso bedeutsam ist wie das analytische Technische. Ein Künstler vermag Harmonie ohne vorherige Analyse zu erschaffen, die erst im Nachhinein die genaue Abstimmung der Elemente aufeinander deutlich machen kann.

Bei näherer Analyse der musikalischen Urbedeutung von Harmonie wird ein weiterer Aspekt deutlich. Harmonische Töne sind harmonische Schwingungen, da ein Ton nichts anderes als die Schwingung eines Mediums ist. Jeder Ton wird durch eine bestimmte Frequenz repräsentiert, die ein Instrument entsprechend erklingen läßt. Und Schwingungen sind wiederum Bewegungen, womit das Verständnis von Harmonie erweitert wird: Offenbar spielt auch Bewegung beim Harmonieren von Komponenten eine wichtige Rolle. In der Musik sind es bestimmte Frequenzbereiche, die Töne nicht verlassen dürfen, um eine bestehende Harmonie nicht zu zerstören. Damit bewegen sie sich innerhalb eines natürlichen Spektrums, welches Harmonie zwischen ihnen ermöglicht. Und auch in anderen Bereichen müssen sich die Elemente eines harmonischen Systems innerhalb bestimmter Grenzen bewegen, um das bestehende Gleichgewicht zu ermöglichen.

Bewegung und Bewegungsfähigkeit der Elemente eines harmonischen Systems sorgen auch für seine Stabilität. Gleichgewicht im Sinne der physikalischen Mechanik ist der Zustand eines Körpers, in dem sich alle angreifenden Kräfte beziehungsweise Momente gegenseitig aufheben. Ein stabil aufrecht stehender Körper befindet sich damit in Harmonie mit dem Boden. Und er steht trotz Stößen von außen solange aufrecht wie seine nach unten zeigende Schwerpunktlinie innerhalb seiner Standfläche bleibt. Seine Bewegung in Form von Schwanken ist also in der Lage, Störungen von außen bis zu einem gewissen Grad zu kompensieren. Damit wird deutlich, daß Harmonie in direkter Verbindung zu Gleichgewicht und Stabilität steht, die wiederum Bewegung brauchen. Ein starres, nur in einem exakten Zustand harmonisches System ist demnach nicht stabil. Und seine Harmonie ist keine umfassende, da das System offenbar nicht von selbst dazu neigt, in seinen harmonischen Urzustand zurückzukehren, so wie der aufrechte Gegenstand durch das korrigierende Schwanken in seinen ruhigen Stand zurückfindet.

Das beobachtete Streben des schwankenden Gegenstands zu seiner festen Ausgangslage kennzeichnet Harmonie als seinen Attraktor. Und so wie der Gegenstand seine Position sichert, indem er einer harmonischen Stellung folgt, fungiert Harmonie für den Menschen als Attraktor, um seine Existenz zu sichern. Sich mit sich selbst und seiner Welt in Einklang zu bringen, bewirkt der Attraktor Harmonie, der damit den Mensch in eine stabile Lage versetzt. In dieser Lage ist es ihm möglich, sich mental von allen rein "technischen" Problemen des Lebens zu lösen. Ihm ist es möglich, den Geist auf Dinge zu lenken, die ihn in jeder Hinsicht weiterbringen. Und diese innere Ruhe bewirkt auch in jeder menschlichen Gemeinschaft Harmonie. Nur wenn die Partner einer Beziehung nicht durch die eigenen Probleme beschäftigt sind, wird die Beziehung harmonisch. Eltern, die in eigenen Problemen untergehen, werden kaum Zeit und Geduld für die Probleme ihrer Kinder finden. Und eine Gesellschaft, die aus selbst problematischen und in Konkurrenz stehenden Individuen besteht, kann in Summe keinen Mehrwert für ihre Bürger liefern. Harmonie ist also deshalb der Hauptattraktor, weil nur durch ihn Gesellschaft zu mehr als die Summe ihrer Teile werden kann. Die perfekte Harmonie in einer Gesellschaft wäre dann gegeben, wenn gemäß der Definition zu Beginn ihre Einzelteile primär nicht mehr als solche wahrnehmbar wären. Das Ich jedes Einzelnen müßte im Gesamten aufgehen, ohne jedoch verloren zu gehen.

Jegliches Streben nach Harmonie in Gesellschaft wird durch gravierende Unterschiede zwischen den Menschen gestört. Daher ist in bestimmten Bereichen Gleichheit eines der obersten Prinzipien bei der Umsetzung von Harmonie im Staat. Einer dieser Bereiche ist beispielsweise die Volkswirtschaft, für die es wichtig wäre, daß alle Menschen über relativ ähnliche wirtschaftliche Mittel verfügen oder diese überhaupt nicht mehr Voraussetzung für die persönliche Entwicklung sind. Derzeit häuft sich jedoch Geld immer mehr an einigen wenigen Orten an, womit es im Umlauf fehlt und das Gesellschaftssystem von innen heraus immer unbeweglicher macht. Doch Bewegung ist für Harmonie fundamental wichtig, da ohne sie die zu harmonisierenden Teile Störungen nicht mehr kompensieren können. Dies könnte entweder über eine finanzielle Grundversorgung geregelt werden, die jedem Bürger automatisch zur Verfügung steht. Oder Geld wird in seiner bisherigen Form durch ein anderes Verrechnungssystem abgelöst, das nach wie vor die Bewertung von Leistung ermöglicht, ohne aber unkontrollierte Verselbständigung in Form von Verzinsung und Kapitalvermehrung zuzulassen.

Ähnlich müßte in anderen wichtigen gesellschaftlichen Bereichen verfahren werden. Macht darf sich ebenso wie Geld nicht an einigen wenigen Orten konzentrieren, da sie sonst dem System Dynamik entzieht. Eines der größten Probleme in aktuellen Demokratien ist die Unverbindlichkeit der Bürger gegenüber gemeinschaftlichen Angelegenheiten. Die von den Wählern empfundene Ohnmacht gegenüber der Politik führt zu höchstgradigem mangelnden Interesse und Engagement. Und ohne Engagement und Verantwortung verlieren Organisationseinheiten ihre generelle Funktionstüchtigkeit. Der Verwaltungsapparat und auch private Dienstleistungen verlieren immer mehr an Seriösität. Zwar wirkt der technische Fortschritt menschlicher Oberflächlichkeit entgegen, kann diese aber nicht ganz kompensieren. Viele Probleme, gerade auf kommunaler Ebene, wie Sachbeschädigung, Diebstahl oder Betrug wären angesichts von mehr Engagement und Verbundenheit der Bürger mit dem Staat gar nicht existent. Da jedoch Macht in Politik und Wirtschaft einseitig und damit unharmonisch verteilt ist, verliert der Mensch seinen Bezug zur Gemeinschaft. Mehr Mitbestimmung und Verantwortung wären in allen Bereichen ein wirksamer Weg, harmonischer zusammen zu leben.

Hauptursache für unharmonische Proportionen innerhalb gesellschaftlicher Bereiche ist egoistisches Handeln der einzelnen Gruppierungen. Unternehmen denken nicht an ihre Mitarbeiter, sondern nur an ihren Gewinn. Die wenigsten haben erkannt, daß sie ihre Belegschaft harmonisch zum Ganzen anordnen müssen, um stabil zu bleiben und damit auch Ertrag zu sichern. Den meisten Führungsebenen in Politik und Wirtschaft fehlt es an Wissen und Bereitschaft, Systeme harmonisch und damit am effektivsten anzuordnen. Egoistisches Handeln belastet die Komponenten eines Systems auch über die jeweiligen natürlichen Grenzwerte hinaus. Immer wieder etabliert der Mensch Systeme, die jegliche Grenzwerte unberücksichtigt lassen. So ist die Ausbeutung der Natur eines der besten Beispiele für die Überstrapazierung von Grenzwerten. Die radikale Entwaldung der tropischen Zonen stört das von sich aus harmonische System der Erde so stark, daß es nicht mehr in der Lage ist, die Schäden effektiv zu kompensieren und neue Wüsten entstehen läßt.

Nur durch Verstehen der anderen Komponenten innerhalb eines Systems kann der eigene Standpunkt relativiert und zu ihnen in Harmonie gebracht werden. Dieses Wissen setzt jedoch die Bereitschaft voraus, im Sinn des Systems oder der Gemeinschaft zu denken und zu handeln. Daher wäre einer der ersten notwendigen Schritte, ein Bewußtsein zu etablieren, das die grundsätzliche Offenheit für das Gegenüber beinhaltet. Erst wenn diese Aufklärung erfolgreich war, ist es eine rein technische und lösbare Frage, wie sich Menschen in einer Gemeinschaft verhalten müssen, um harmonischer handeln zu können. Die Erkenntnis eines Jeden, seine bestimmte Funktion und Verantwortung in der Gemeinschaft zu finden, wird den Weg zu einer Gesellschaft bereiten, die harmonischer ist als alle bisherigen.

(Mesbahi/Obermayer, 2009)